Dem Auftrag der Mitgliederversammlung folgend, hat der Trinationale Atomschutzverband TRAS den deutschen Bundesminister für Wirtschaft und Klimaschutz, Dr. Robert Habeck, dazu aufgefordert, alle nötigen Schritte zu unternehmen, um die Atomanlagen in Gronau und Lingen schnellstmöglich stillzulegen und die Kooperation mit Rosatom und ihren Tochterunternehmen zu beenden. TRAS fordert weiter, das Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz möge ein
Exportverbot aller Uranprodukte anstreben, um die Risiken der veralteten Atomkraftwerke in der Schweiz und anderswo nicht weiter zu verlängern und die Abhängigkeit von der russischen Atomwirtschaft nicht weiter zu fördern.
Conformément au mandat de l’assemblée générale, l’association trinationale de protection nucléaire ATPN a demandé au ministre fédéral allemand de l’économie et de la protection du climat, Dr. Robert Habeck, de prendre toutes les mesures nécessaires pour fermer au plus vite les installations nucléaires de Gronau et de Lingen et de mettre fin à la coopération avec Rosatom et ses filiales. L’ATPN demande en outre que le ministère fédéral de l’Économie et de la Protection du climat s’efforce d’interdire l’exportation de tous les produits à base d’uranium afin de ne pas prolonger les risques liés aux centrales nucléaires vieillissantes en Suisse et ailleurs, et de ne pas encourager la dépendance vis-à-vis de l’industrie nucléaire russe.
TRAS diskutierte mit Expertinnen und Experten, was die massive Abhängigkeit von Atomkraftwerken für Frankreich, Europa und die Schweiz bedeutet. Eine Zusammenfassung und die Präsentationen.
Zusammenfassung
Rund ein Viertel des europäischen Stroms – jährlich ungefähr 700 TWh – kommt aus AKW. 2022 sind jedoch allein in Frankreich 80 TWh davon ungeplant weggeblieben. Das französische Pannenjahr wirft Fragen auf. Besonders, wenn Politikerinnen und Politiker in Frankreich, aber auch in der Schweiz im Namen der Versorgungssicherheit neue AKW-Debatten starten wollen.
Der Krieg gegen die Ukraine, die französische AKW-Misère und der endlich vollzogene deutsche Atomausstieg konfrontieren die Atom-Lobby indes mit einer anderen Wirklichkeit: 2022 ist die Atomstromproduktion richtiggehend eingebrochen und trug noch gerade 9.2% zur weltweiten Stromproduktion bei. In einer Keynote erläuterte Christine Buchheit, Umweltbürgermeisterin der Stadt Freiburg i.Brsg., wie der deutsche Atomausstieg vor dem Hintergrund der europäischen Energie- und Stromdebatte zu verorten ist. Der Ausstieg, so Buchheit, sei richtig und überfällig gewesen. Wegen den Ausfällen der französischen AKW habe Deutschland im vergangenen Jahr mehr Strom nach Frankreich exportiert als umgekehrt.
Dr. Christoph Pistner, Abteilungsleiter für Nukleartechnik und Anlagensicherheit am Öko-Institut Darmstadt, hat die französischen AKW-Ausfälle sicherheitstechnisch eingeordnet. Obwohl die Befunde nicht in jedem Fall einfach übertragbar seien, müsse man auch in Zukunft mit bösen Überraschungen rechnen. Die französischen AKW seien – genau wie ihre Schweizer Pendants – in einem Alter, in dem zunehmend mit der Entdeckung sicherheitsrelevanter Mängel zu rechnen sei. Solche Entdeckungen führen zu massiven Produktionsausfällen und sind ein zunehmendes Problem für die Versorgungssicherheit.
Als Fachreferent für Stromversorgungssicherheit hat Johannes Kemper die Bedeutung von Atomkraftwerken für die Versorgungssicherheit aus der Perspektive der Bundesnetzagentur beleuchtet. Zwar könne ein einzelner Ausfall eines AKW relativ gut kompensiert werden. Gleichwohl stellen grössere Ausfälle die Netzbetreiber vor Herausforderungen. Hingegen spreche nichts gegen einen Verzicht auf Atomkraftwerke. Ein klarer Ausstiegspfad helfe dabei, den dadurch entstehenden Herausforderungen planerisch begegnen zu können.
Mit etwas Distanz zum letzten Winter, so waren sich die Referentinnen und Referenten einig, lässt sich festhalten, dass die Abhängigkeit von Atomkraftwerken für die Versorgungssicherheit ein Problem und keine Lösung darstellt. Diese Einschätzungen decken sich auch mit jenen der ElCom und bestätigen TRAS darin, weiterhin an einem baldigen Ausstieg aus der Atomenergie zu arbeiten.
Am Freitag den 30. Juni 2023 findet die diesjährige Mitgliederversammlung in der „Halle 7“ im Gundeldingerfeld in Basel (Dornacherstrasse 192, Basel) statt. [Lageplan]
13:00 Uhr Statutarischer Teil 13:45 Uhr Pause 14:00 Uhr Öffentlicher Teil 1: „Misère Nucléaire. Wenn AKW ungeplant ausfallen“
15:00 Uhr Pause
15:30 Uhr Öffentlicher Teil 2: „Würdigung des deutschen Atomausstiegs und Ausblick“
16:30 Uhr Apéro
Das TRAS-Berichtsjahr 2022/2023 war einmal mehr von sehr unterschiedlichen atompolitischen Entwicklungen geprägt. Lesen Sie die redaktionellen Beiträge unseres Jahresberichts hier online:
1. Entwicklung in Fessenheim
Entfernung aller Brennstäbe
Der Rückbau des Atomkraftwerks (AKW) Fessenheim wurde planmässig fortgesetzt. Am 18. Oktober 2021 waren alle Brennelemente aus dem Reaktor 1 entfernt und in die Entsorgungs- und Wiederaufarbeitungsanlage von Orano von La Hague versendet. Die sechs radioaktiv kontaminierten Dampferzeuger wurden auf der Strasse und auf dem Seeweg nach Schweden zur Entsorgung transportiert, wo der nicht radioaktive Teil getrennt und wiederverwertet wird. Turbinen und Generatoren werden in andere Atomkraftwerke (AKW) verschickt.
Die Geschwindigkeit, die die EDF an den Tag legte, hat frühere Erwartungen positiv übertroffen. Im August 2022 wurde die Entfernung aller Brennstäbe aus dem Reaktor 2 vermeldet. Damit sind die grössten Risikofaktoren definitiv beseitigt, die zu einer Kernschmelze führen könnten.
Der Abtransport der Brennstäbe erfolgte trotz Knappheit der in La Hague verfügbaren Kühlbecken. Das Versprechen, bis 2023 alle Brennstäbe zu entfernen, wurde vorzeitig eingelöst.
«Grüne Wiese» bis 2041?
EDF plant eine Nachfolgenutzung des Geländes; bis 2041 soll das Gelände dekontaminiert und wiederhergestellt sein. Die verbleibenden Strukturen sollen radiologisch «stillgelegt» und chemische Verschmutzungen entfernt werden; Hohlräume unterhalb des Bodenniveaus sollen verfüllt und die bisherige Betonstruktur auf das Niveau des natürlichen Geländes eingeebnet werden.
Für den detaillierten Entsorgungsplan ist für 2024 ein öffentliches Vernehmlassungsverfahren angekündigt. Die definitive Genehmigung des Rückbauplans ist nicht vor 2026 zu erwarten.
Die Zahl der Mitarbeitenden sank bis zum 31.Dezember 2022 auf 220 (ohne Temporäre) und soll bis Ende 2023 auf 125 weiter sinken. Der bisherige Maschinenraum wurde zu einer «Abfallbehandlungsanlage» umfunktioniert.
Anlass zu Diskussionen in der CLIS (Commission Locale d’Information et de Surveillance) gab die Entsorgung von über 100 Tonnen Borsäure. Dabei handelt es sich um ein Notkühlmittel aus dem Reaktorsystem. Ein Teil des Bors wird als flüssiger Abfall, nach Behandlung in der Aufbereitungsanlage, in den Canal d’Alsace ausgelassen. Von den 18 Tonnen, die 2021 entfernt wurden, wurden 13,3 Tonnen als boriertes Konzentrat in Tanks verpackt und in einer Verbrennungsanlage entsorgt. 5,5 Tonnen wurden in den Grand Canal d’Alsace entleert, wobei die jährliche zulässige Obergrenze für die Einleitung 10 Tonnen beträgt. EDF und ASN erklärten ihre Bereitschaft, diesen Grenzwert auch in den kommenden Jahren nicht zu überschreiten.
Weitere Bedenken wurden an der CLIS geäussert, insbesondere was die Dekontaminierung der Böden und der Betonstrukturen anbelangt, die unter der Erdoberfläche verbleiben. Die ASN hat sich beim Terminus «vollständige Entsorgung“ einige Hintertüren offengelassen. So heisst es in einem Protokoll der CLIS:
«Der Endzustand ist sowohl ein physischer Zustand der Anlage (Zustand der Strukturen) als auch ein radiologischer und chemischer Zustand. Diese Kenntnisse werden bei jeder regelmäßigen Überprüfung, mindestens alle 10 Jahre, konsolidiert, auch nach der endgültigen Einstellung des Betriebs. Die [Aufsichtsbehörde] ASN empfiehlt als erste Lösung einen Endzustand, bei dem alle chemischen und radioaktiven Stoffe aus der Anlage entfernt worden sind und der als vollständige Sanierung bezeichnet wird. Dieser Endzustand ist mit allen [späteren] Nutzungen vereinbar. Wenn der Betreiber die vollständige Sanierung nicht erreichen kann, muss er dies gegenüber der ASN begründen und nachweisen, dass er bei der Sanierung so weit wie möglich geht. In diesem Fall wird von einer weitgehenden Sanierung gesprochen.
Der Betreiber muss trotzdem dafür sorgen, dass der Zustand der Anlage mit allen Nutzungen vereinbar ist. In jedem Fall ist die ASN der Ansicht, dass es nicht akzeptabel ist, Sanierungsziele von vornherein auf der Grundlage von Expositionsschwellen festzulegen, [sondern]…, dass die Definition des Endzustands iterativ sei und dass es in diesem Stadium schwierig sei, sehr genau zu definieren, was der Endzustand sein wird. Der Endzustand wird sowohl durch den Erfahrungsrückfluss aus dem Betrieb, aus der Stilllegung als auch durch den Fortschritt der verschiedenen Phasen (vollständige oder erweiterte Sanierung) bis hin zur Stilllegung definiert.
(…) Wenn der Betreiber keine vollständige Sanierung durchführen kann, muss er begründen, dass er im Sanierungsprozess so weit wie möglich geht, und seine Sanierungsziele angeben. Die Sanierungsunterlagen bestehen aus einer Diagnose, die aus einer genauen Bestandsaufnahme des Standorts besteht, einer Methodik, die die Wahl des Sanierungsszenarios beschreibt, und messbaren und kontrollierbaren Zielen. Die Methodik und die Ziele werden der ASN zur Genehmigung vorgelegt. Nach Abschluss der Sanierungsarbeiten kann der Betreiber die Stilllegung seiner Anlage beantragen. Hierzu legt der Betreiber der ASN ein Stilllegungsdossier vor, in dem er nachweist, dass der angestrebte Endzustand erreicht wurde, und wenn dieser nicht erreicht werden konnte, den Nachweis erbringt, dass er nicht erreicht werden konnte, zusammen mit einer Bewertung der verbleibenden Auswirkungen. Wenn dieser Zustand nicht mit allen etablierten, geplanten und denkbaren Nutzungen vereinbar ist, können gemeinnützige Dienstbarkeiten eingeführt werden.»
Claude Brender: Ruf nach SMR
Im Berichtsjahr schlug der Bürgermeister von Fessenheim, Claude Brender, vor, neue, kleine modulare Reaktoren («small modular reactors», SMR) am Standort Fessenheim anzusiedeln.
Er wiederholt sinngemäss die Forderungen, die der Präsident der Collectivité européenne d’Alsace, Frédéric Bierry bereits im November 2021 erhoben hatte.
Eine neue nukleare Nutzung am Standort würde dem bisher von EDF verkündeten Plan grundlegend zuwiderlaufen. SMRs machen am Standort Fessenheim wenig Sinn.
Eine Mehrheit von Gemeinden im Dreiländereck Frankreich/Deutschland/Schweiz lehnt die Kernenergie ab.
Unter dem Oberrhein befindet sich das grösste Grundwasservorkommen Europas.
Die Region weist das höchste Erdbebenrisiko nördlich der Alpen auf.
Angesichts der Grenznähe wäre ein Neubau von Kernanlagen ein politischer Affront. Deutschland hat am 15. April 2023 seine letzten AKWs geschlossen. In der Schweiz wurde 2017 ein Neubauverbot für Atomkraftwerke demokratisch mit 58% Mehrheit der Stimmberechtigten verabschiedet, um neuen Atomrisiken einen Riegel zu schieben. Die noch bestehenden Atomanlagen gehören zu den ältesten weltweit, was einen dauerhaften Weiterbetrieb auf lange Sicht ausschliesst.
Auch die hohen Fixkosten für die Sicherheit von Atomanlagen lassen neue SMR wenig sinnvoll erscheinen. Zudem hat diese Technologie noch keineswegs Baureife erreicht, sondern ist vielmehr Teil der leeren Versprechungen, mit denen die Atomlobby seit Jahrzehnten Desinformation betreibt.
Allerdings ist die französische Atompolitik unberechenbar. Die Ausgangslage ändert sich mit jedem neuen Präsidenten Frankreichs, weshalb die grossen Fortschritte beim Rückbau der Anlage so wichtig sind.
Müsste heute über die Schliessung von Fessenheim entschieden werden, wäre ein solcher Schritt angesichts der Stromlücke in Frankreich nicht erneut zu erwarten. Es war historisch ein Glück, hat der Rückbau der Anlage schon 2020, rund zwei Jahre vor Ausbrauch des russischen Kriegs gegen die Ukraine begonnen, und nicht später.
«Technocentre»
Wenig Klarheit besteht, was den Plan für ein «Technocentre» anbelangt: dabei handelt es sich um eine Recyclinganlage für schwach-radioaktive Metalle aus ganz Frankreich, die laut früheren Verlautbarungen der Regierung am Standort Fessenheim realisiert werden könnte.
Der Bau einer solchen Anlage stösst auf heftige Opposition im Grenzraum. Sollten diese Pläne weiterverfolgt werden, würde TRAS gegen eine solche neue Quelle radioaktiver Emissionen mit juristischen Mitteln vorgehen.
Mitarbeit in der CLIS
TRAS war an vier Sitzungen der Fessenheim-CLIS – Commission Locale d’Information et de Surveillance – vertreten. Von deutscher Seite wohnte TRAS-Vizepräsident Stefan Auchter, von französischer Seite Vizepräsident Claude Ledergerber bei, ebenso Jean-Paul Lacôte.
TRAS-Vizepräsident Rudolf Rechsteiner wurde ab 2020 vom Eidgenössischen Departement des Äusseren (EDA) als Vertreter der Schweizer Umweltorganisationen in die CLIS delegiert.
Die Kommission steht seit einem Jahr unter dem Präsidium von Raphaël Schellenberger, der auch die Kommission der Nationalversammlung präsidierte, die den jüngsten, atomfreundlichen Bericht über die «verlorengegangene Energiesouveränität Frankreichs» veröffentlicht hat.
2. Destabilisierter Atompark Frankreichs
Pannen, Schäden, mangelnde Sicherheit
In Frankreich häufen sich die Betriebsausfälle in den alten AKWs. Damit einher gehen steigende Sicherheitsrisiken.
Im Sommer 2022 waren zeitweise über 30 von 56 Atomreaktoren ausser Betrieb, wobei Wassermangel, Streiks und – vor allem – technische Defekte als massgebliche Ursache genannt wurden. Dazu kamen verlängerte Revisionszeiten.
Die Situation spitzte sich im Frühjahr 2023 weiter zu. Am 6. März 2023 berichtete die Aufsichtsbehörde ASN über Spannungsrisskorrosion in Reaktoren von Cattenom 3, Civaux, Chooz B, Penly. In Penly wurde die Länge des Risses einer Schweißnaht einer Leitung, die sich im «heißen Zweig des Sicherheitseinspritzsystems des Reaktors 1» befindet, auf über 155 mm beziffert, d. h. «etwa ein Viertel des Umfangs der Leitung», mit einer maximalen Tiefe von 23 mm bei einer Leitungsdicke von 27 mm. Zuvor war diese Leitung aufgrund ihrer Geometrie als «nicht anfällig für Spannungsrisskorrosion» beurteilt worden. Allerdings war diese Schweißnaht beim Bau des Reaktors doppelt repariert worden, wodurch sich ihre mechanischen Eigenschaften veränderten. Bei weiteren Kontrollen wurden auch am AKW Cattenom «thermische Ermüdungsrisse» an Leitungen entdeckt, die als empfindlich gegenüber Spannungsrisskorrosion galten. Die ASN stufte das Ereignis für den Reaktor 1 des Kernkraftwerks Penly auf Stufe 2 der INES-Skala und für die anderen betroffenen Reaktoren auf Stufe 1 ein. EDF führt seither ein Kontrollprogramm von Schweißnähten durch, was zur vorübergehenden Ausserbetriebnahme einer Vielzahl von Reaktoren führte.
Ideologische Zwängereien
Im Berichtsjahr zeigte sich: Massgebliche Kräfte in Frankreich setzen trotz aller Probleme noch verstärkt auf den Ausbau der Atomenergie, und sie bekämpfen trotz Ukraine-Krieg den Ausbau der erneuerbaren Energien hartnäckig.
Der im französischen Energiegesetz verankerte Absenkpfad auf 50% Anteil der Atomenergie an der Stromversorgung wird in der Nationalversammlung von den Rechtsparteien immer schärfer kritisiert. Mit der Kritik eng verbunden sind die Lücken in der nuklearen Lieferkette, die durch den inzwischen jahrzehntelangen faktischen Baustopp für neue AKWs entstanden sind.
Die technischen Probleme mit dem EPR haben zu einer beispiellosen Entschleunigung der Herstellung neuer Reaktoren geführt, verglichen mit der hohen Kadenz zwischen 1975 und 1995.
Die konservativen Kräfte im Parlament suchen nun nach Mitteln und Wegen, den Wiederaufbau der nuklearen Industrie zu beschleunigen. Sie berufen sich dabei gerne auf die «Belfort-Rede» von Präsident Macron, der im Wahlkampf die Inbetriebnahme von sechs neuen Atomreaktoren bis 2035 in Aussicht stellte. Diese sechs Reaktoren sollen in Penly und Gravelines (am Ärmelkanal) stehen, sowie in Tricastin (südlich von Lyon), gefolgt von möglicherweise acht weiteren Reaktoren zu einem späteren Zeitpunkt.
Dass ein solcher Fahrplan eingehalten werden kann, wird selbst in Kreisen der Atomindustrie bezweifelt. Die Anstrengungen der EDF konzentrieren sich noch immer auf die Verlängerung der Laufzeiten von alten Anlagen.
Lange Anmarschzeiten, hohe Kosten
Die politischen Bemühungen der politischen Rechten stehen in Kontrast zur wirtschaftlichen und technischen Gesundheit der Betreiberfirma Electricité de France (EDF). Weil neue Atomanlagen extrem teuer geworden sind, und um einen Bankrott angesichts von 64 Milliarden Altschulden, 19 Milliarden Betriebsverlust und 100 Milliarden Euro Zusatzkosten für den Weiterbetrieb soll EDF für weitere 20 Milliarden Euro vollständig verstaatlicht werden.
Die sinkende Auslastung deutet darauf hin, dass die EDF die betrieblichen Aufgaben immer weniger im Griff hat. Dazu kommt ein Mangel an Fachkräften. EDF war gezwungen, über 100 spezialisierte Schweisser aus den USA einzufliegen, um die Schäden durch Spannungsrisskorrosion zu beseitigen.
Die Zeit- und Kostenüberschreitungen beim Bau der Euroreaktoren (EPR) in Olkiluoto und Flamanville sind ein Hinweis, dass die Erneuerung des Atomparks langwierig und schwierig sein wird.
Der Neuaufbau von Kapazitäten erfolgt zudem in einem Umfeld, in dem fast alle EU-Mitglieder auf den Ausbau der Solar- und Windenergie setzen, der schneller und viel billiger vollzogen werden kann. In diesem dynamischen Umfeld wird der Ausbau der Kernenergie immer unwahrscheinlicher, weil viel zu teuer und zeitraubend.
Die private Finanzierung neuer Atomkraftwerke scheint trotz Greenwashing in der EU-Taxonomie nahezu unmöglich. Deshalb muss jede neue Anlage durch die Staatskasse finanziert werden, oder sie braucht Staatsgarantien in Milliardenhöhe wie in Grossbritannien.
Es ist deshalb keine Überraschung, dass französische Atompolitiker gegen den wettbewerblichen Strommarkt polemisieren und gleichzeitig versuchen, die Herstellung von Elektrizität zur «Staatssache» zu machen, um eine angebliche «Energiesouveränität» wiederherzustellen, die es in den letzten 70 Jahren ohnehin nie gab. Mit dieser Vorgehensweise verstösst Frankreich gegen den Sinn und Geist der europäischen Wettbewerbsregeln. Zudem wird die Abhängigkeit der europäischen Stromversorgung von Russland in perverser Weise noch verstärkt.
Selbst ein verstaatlichter Atomkomplex wird sich nicht über die langen Anmarschzeiten hinwegsetzen können. EDF hat einen neuen, ungetesteten «vereinfachten» Reaktortyp als weiteres Ziel angekündigt. Auf einen genauen Zeitplan will sich EDF nicht festlegen und spricht von «2035 bis 2037» statt von «2035» als realistischen Zeitpunkt eines Betriebsstarts dieses neuen Reaktors. Zu diesem Zeitpunkt werden weite Teile Europas ihre Stromversorgung vollständig auf erneuerbare Energien und auf neue Speicher umgestellt haben. Frankreich wird dann zu den rückständigsten Nationen gehören und dürfte, um die hohe Rechnung zu rechtfertigen, verstärkt «militärische Gründe» für den Ausbau der angeblich zivilen Atomenergie ins Feld führen.
Neben den langen Fristen sprechen auch Kostenargumente gegen den Atomausbau. Atomstrom wird historisch betrachtet immer teurer. Die New Yorker Investmentbank Lazard veröffentlicht jährlich eine Kostenanalyse für neue Kraftwerke. Sie beziffert die Kosten für neuen Atomstrom auf $0.18/kWh. Das ist mehr als dreimal so teuer wie neuer Solarstrom ($0.05/kWh) oder Windstrom ($0.06/kWh).
Die erneuerbaren Energien haben vor dem Hintergrund des Ukrainekriegs eine präzedenzlose Ausbaugeschwindigkeit erreicht. Photovoltaik- und Windkraftwerke ersetzten 2022 wöchentlich die Stromerzeugung eines Atomreaktors mit 1 GWe Leistung; der weltweite jährliche Zubau der Photovoltaik (PV) stieg auf über 250 GW und jener der Windenergie auf 78 GW. Dieses exponentielle Wachstum, und die noch schneller wachsende Installation von Speichern, insbesondere Batterien, wird zu weiteren Verbilligungen führen, was die genannten Alternativen zur Kernenergie weltweit nochmals attraktiver macht.
Vor allem aber bewirkt dieser Ausbau, dass der Anspruch der Kernenergie immer unglaubwürdiger wird, angeblich «exklusiv» die einzige tragfähige Klimaschutztechnologie zu sein, die sauberen Strom zu vertretbaren Kosten bereitstellt.
Die energiewirtschaftliche Realität straft den erwähnten Untersuchungsbericht der französischen Nationalversammlung Lügen. Neue Atomkraftwerke werden zum teuren «Kropf», der die Anstrengungen im Klimaschutz verzettelt und weder kurzfristig noch kostengünstig Lösungen bereithält.
Hoher Preis des französischen Energiepfads
Die Produktionslücken in Frankreich, wie sie nach dem Ausbruch des russischen Krieges gegen die Ukraine aufgetreten sind, haben Industrie und Gewerbe schwer geschadet.
Die extremen Preisnotierungen für Elektrizität 2022, verursacht durch Wasserknappheit, hohe Gaspreise, Streiks und einer Vielzahl von Pannen hatten aber auch ein Gutes.
In ganz Europa haben sie zu einem Boom der Investitionen in Solar- und Windparks beigetragen. Die Bewilligungsverfahren wurden endlich beschleunigt. Die Produktion von Solar- und Windstrom wird nun häufiger direkt an Unternehmen verkauft, finanziell besichert durch langfristige Bezugsverträge (Power Purchase Agreements), ohne Mitwirkung oder Subventionen des Staates.
Solange der europäische Markt geöffnet bleibt, wird auch die französische Industrie ihren Weg suchen, um sich vor hohen Preisen zu schützen und um Produktionslücken zu umgehen, die von der Misswirtschaft der Pariser Atomindustrie verursacht werden.
Unbesehen aller pro-Atom-Rhetorik und der atomfreundlichen Leitmedien haben Frankreichs Atompannen zu einem riesigen Vertrauensverlust geführt, der sich bei Verlängerung der Stillstände nicht so schnell aus der Welt schaffen lässt.
Angesichts des steigenden Marktanteils der Erneuerbaren gerät Atomstrom zunehmend in Konflikt mit den billigeren Erzeugungsarten.
Immer wenn billiger Sonnen- und Windstrom witterungsabhängig und zu Grenzkosten von null die Stromnetze füllt, sinken die Strompreise gegen null. Die Anzahl Jahresstunden, an denen Atomkraftwerke dann noch kostendeckend betrieben werden, wird sich zurückbilden.
Bandenergie aus Atomkraftwerken eignet sich wenig zur Abdeckung von Lastspitzen. In Zeiten von Stromengpässen ist Frankreich schon heute essenziell auf Stromimporte oder auf zusätzliche Kapazitäten mit Erdgas angewiesen, wie sich schon im letzten Winterhalbjahr exemplarisch zeigte.
Atomkraftwerke sind wegen den besonders hohen Kapitalkosten ungeeignet, die Abdeckung von Lastspitzen zu gewährleisten. Bandenergie aus Kernkraftwerken musste schon immer durch die Leistung von Speicherkraftwerken und Pumpspeicherwerken ergänzt werden, deren Kosten inzwischen von stationären Batterien unterboten werden.
Nicht der Atomausstieg Deutschlands, wie von den Leitmedien kolportiert, ist energiewirtschaftlich ein Sonderfall, sondern das Festhalten an der Atomenergie.
Die prekäre Inflexibilität der Stromversorgung schadet der französischen Wirtschaft. Das zeigen die jüngsten Preisentwicklungen: Die Terminpreise für Stromlieferungen im 1. Quartal 2024 liegen in Frankreich auf einem weit höheren Niveau als in Deutschland.
An kalten Tagen konnte die EDF schon im letzten Winter Stromausfälle (Blackouts oder terminierte Stromabschaltungen) nicht mehr völlig ausschliessen, weil Pannen und Korrosion zwei Dutzend Atomkraftwerke lahmlegten.
Mehr als 40 Prozent der Wohnungen Frankreichs werden elektrisch beheizt, vorwiegend mit ineffizienten Elektro-Widerstandsheizungen. Diese Heizungsstrategie, die füher der Verwertung von Strom-Überschüssen aus Atomkraftwerken diente, erweist sich heute als Bumerang.
Von 2015 bis 2023 verzeichnet der französische Atompark eine sinkende Stromerzeugung im sensiblen ersten Quartal: sie sank von 117,8 TWh auf 84,8 TWh (minus 27,6%). Hauptursache ist die Alterung des Atomparks. Sie wird nicht wie von Zauberhand verschwinden.
Im ersten Quartal 2023 lag die nukleare Stromerzeugung sogar noch tiefer als im Vorjahresquartal. Frankreich musste Strom importieren, um die Versorgungssicherheit aufrechtzuerhalten.
Nun rächt sich, dass der Aufbau eines tragfähigen Portfolios mit erneuerbaren Energien jahrelang ausgebremst wurde.
Die Folge ist, dass neben Kohlestrom teures Erdgas benötigt wird. Gewerbe und Industrie sind den damit einher gehenden Preisspitzen besonders ausgesetzt, denn sie geniessen in Frankreich nicht wie die Haushalte einen gesetzlichen Preisschutz.
Streit um europäische Strommarktordnung
Der erwähnte Untersuchungsbericht der Nationalversammlung entfacht auch einen politischen Streit um die Energiezukunft zwischen Frankreich und Deutschland.
In seinem Vorwort macht Kommissionspräsident Raphaël Schellenberger unverhohlen den «plötzlichen Rückzug» deutscher Hersteller wie Siemens für die Verzögerung beim Bau des französischen EPR verantwortlich.
Der Bericht wirft Deutschland zudem vor, die «grüne Energiepolitik» Frankreichs systematisch zu hintertreiben, indem nicht anerkannt werde, dass der aus Atomenergie erzeugte Wasserstoff «grün» sei.
Die «ideologische Federführung durch Atomkraftwerkgegner» sei auch in Brüssel mitschuldig daran, dass Frankreich heute Kompetenzverluste im Nuklearsektor verzeichne.
Die zentrale Behauptung des Berichts geht dahin, dass ein erneuerbares Energiesystem gar nicht funktionieren könne, weil es «instabil» sei und zwangsläufig auf den Weiterbetrieb fossiler Kraftwerke angewiesen sei, was CO2-Reduktionen auf «netto null» verunmögliche.
Bei dieser aggressiven Rhetorik wird allerdings unterschlagen, dass Atomkraftwerke ihrerseits nicht nur wegen Pannen, sondern auch durch die zunehmend anspruchsvolleren Revisionen zur «intermittierenden Stromquelle» transmutiert sind.
Weiter unterschlägt Schellenberger im polemischen Vorwort seines Kommissionsberichts, dass Gaskraftwerke nach deutscher Lesart in Zukunft mit Wasserstoff oder ‑Derivaten (zB. Biomethan) betrieben werden.
Für die kurze Frist (Tag/Nacht-Ausgleich) spielen zudem Batterien eine immer wichtigere Rolle zur Flexibilisierung von Angebot und Nachfrage. Sie verzeichnen in Deutschland und weltweit ein exponentielles Wachstum.
Ebenso werden die Bestrebungen Deutschlands nicht ernst genommen, die eigenen Gaskraftwerke mit Wasserstoff-Derivaten zu betreiben – nämlich dann, wenn Strom-Überschüsse aus erneuerbaren Energien dafür ausreichend zur Verfügung stehen.
Stolz Frankreichs angekratzt
Wie schlecht es um die vermeintliche «Energiesouveränität» bestellt ist, zeigte sich, als die russischen Gaslieferungen eingestellt wurden: Die Anlagen in Olkiluoto und Flamanville konnten keinen Strom liefern. Auch die „Vorfahren“ versagten im denkbar ungünstigsten Moment.
Die Inbetriebnahme des EPR in Flamanville, dessen Bau 2007 startete, wurde im Dezember 2022 ein weiteres Mal auf 2024 verschoben.
Die hohe Abhängigkeit Frankreichs von russischen Uranlieferungen trägt ebenfalls nicht zur Steigerung der Popularität der Atomenergie bei. Frankreich arbeitet mit der russischen Rosatom beim Bau zweier ungarischer Atomreaktoren zusammen. Rosatom kauft mehr als die Hälfte aller Turbinen «Arabelle» in Belfort ein und liefert viel angereichertes Uran nach Frankreich (und in die Schweiz).
Trotzdem wird die Atomkraft unverfroren als «einheimische Energie» verkauft. Frankreich könnte den Boykott russischer Atomtechnik gar nicht verkraften.
Die Atomenergie blockiert indirekt den konsequenten Boykott russischer Banken. Frankreich und die Schweiz unterlaufen mit ihrer Atompolitik die Anstrengungen der Nato und der UNO, den russischen Überfall auf die Ukraine zu sanktionieren.
Frankreich und die erneuerbaren Energien
2022 wurden in Frankreich nur 2,6 GW Solarpanels installiert, eine geringere Zahl als 2021 (2,8 GW). «In dem inflationären Kontext, in dem viele Projekte blockiert zu sein schienen, ist es letztendlich eher ein gutes Jahr, auch wenn es nicht völlig zufriedenstellend ist», versuchte das Umfeld der Ministerin für den Energiewandel, Agnès Pannier-Runacher, die Entwicklung zu relativieren.
Das im Januar 2023 verabschiedete Gesetz zur Beschleunigung der erneuerbaren Energien ist ein positiver Schritt. Aber nach Ansicht der Akteure der Branche reicht er nicht aus. Um die Verpflichtungen Frankreichs einzuhalten, müsste es gelingen, bis 2023 4,4 GW Solarenergie zu installieren. «Um das Tempo des EPP [Mehrjähriges Energieprogramm] und die Vorgaben des Präsidenten der Republik in seiner Energie-Rede in Belfort [im Februar 2022] einzuhalten, müssen wir bis 2028 mehr als 3 GW pro Jahr anstreben, das ist eine Herausforderung, sagt Agnès Pannier-Runacher.
Neben der Photovoltaik und der Windenergie zu Lande kommt eine immer grössere Rolle den Meereswindanlagen zu, die inzwischen auch schwimmend auf Pontons erstellt werden.
Frankreich werde bis 2050 „50 Offshore-Windparks“ mit einer Gesamtkapazität von 40 GW bauen, sagte Macron im Februar 2022 in seiner Rede in Belfort. Für 2050 sieht er eine Kapazität von 100 GW Photovoltaik als Ziel, was zusammen mit Windenergie zu Lande die Produktion der bestehenden Atomkraftwerke etwa zu zwei Dritteln ersetzen könnte. Das Windkraftprogramm ist allerdings um Jahre in Verzug.
Der genannte Untersuchungsbericht der Nationalversammlung sagt in einer der Empfehlungen ausdrücklich, den Bau von 50 offshore Windfarmen weiterzuverfolgen. Die offshore Windenergie ist die einzige erneuerbare Technik, die in diesem Bericht eine positive Erwähnung findet. Fast alle übrigen Empfehlungen drehen sich um die Beschleunigung der Investitionen für den Atompark.
3. Situation in Deutschland
Deutschland steigt aus
Eigentlich sollten die drei letzten Reaktoren in Deutschland per Ende 2022 vom Netz gehen. Dann aber hat die europäische Energiekrise – ausgelöst durch den russischen Angriff auf die Ukraine und den gleichzeitigen Serienausfall französischer AKW – zu einer neuen energiepolitischen Debatte geführt. Die Bundesregierung entschied sich mit dem befristeten Weiterbetrieb bis Mitte April 2023 für einen Kompromiss, den sie wie folgt erklärt: «Es galt, einer möglichen Strommangellage in der kalten Jahreszeit 2022/23 sicher begegnen zu können. Dies ist geschehen. Die Ära der Kernkraft für die Stromerzeugung geht zu Ende.»
Am 15. April 2023 war dann tatsächlich Schluss. Damit ist Deutschland nach Italien und Litauen der dritte europäische Staat, der die kommerzielle Nutzung der Atomenergie beendet. Es ist indes absehbar, dass mit dem Ende des AKW-Betriebs die Diskussionen darum noch längst nicht abreissen. Einerseits dürfte die Energieversorgung Europas und Deutschlands auch in den kommenden Wintern eine Herausforderung bleiben. Auch wenn die Atomenergie hierbei weder kurz- noch mittelfristig Abhilfe schaffen könnte, wird sie auch weiterhin Teil der politischen Debatte bleiben: Der Atomausstieg muss immer wieder als energiepolitischer Sündenbock herhalten, selbst wenn längst klar ist, dass vernünftigerweise kein Weg in die nukleare Vergangenheit mit ihren enormen Abhängigkeiten und Unsicherheiten zurückführt. Andererseits ist Deutschland ein zentraler Akteur in der Europäischen Union. Seine Vertreterinnen und Vertreter führen auf der europäischen Bühne oft das Wort für eine atomfreie europäische Energiezukunft – in harter Opposition zu Frankreich, das sich im Verbund vor allem mit einigen osteuropäischen Staaten eine Atomenergie-Allianz gezimmert hat.
Taxonomie und neuer Atomstreit in der EU
Im Juli 2022 entschied sich das europäische Parlament, Atom- und Gasenergie als sogenannten Brückentechnologien in die EU-Taxonomieverordnung aufzunehmen. Das bedeutet, dass Investitionen in diese beiden Technologien unter bestimmten Rahmenbedingungen als nachhaltig gelten können.
TRAS hat beim Europäischen Gerichtshof Klage gegen die Aufnahme von Atom- und Gaskraftwerken in die Liste nachhaltiger Wirtschaftstätigkeiten eingereicht.
Der Europäische Gerichtshof wies die Klage am 30. März als nicht zulässig ab. Gegen diesen Entscheid des EUGH hat TRAS einen Rekurs eingeleitet, der erneut vom Pariser Anwaltsbüro Huglo-Lepage eingereicht werden soll.
Kaum ist die aus Umweltsicht mehr als heuchlerische Taxonomie-Richtlinie in Kraft, zeichnen sich neue Konflikte um den Umgang Europas mit der Atomenergie ab. Im Frühjahr 2023 versuchte Frankreich etwa, Wasserstoff als erneuerbar zu taxieren, wenn dieser mithilfe von AKW-Strom erzeugt wird. Unverhohlen geht es um die «Mobilisierung finanzieller Mittel» für den arg gebeutelten französischen Atomenergiesektor, der nach den massiven Produktionsausfällen (allein 2022 fehlten ungeplant 80 TWh Atomstrom) unter enormem wirtschaftlichem Druck steht. Die Diskussion um «grüne» Finanzspritzen für AKW dürfte weiter gehen – TRAS wird die Entwicklung genau verfolgen und behält sich weitere rechtliche Schritte vor.
Während der kommerzielle AKW-Betrieb endlich der Vergangenheit angehört, bleiben weitere Themen aktuell. Einerseits stellt sich auch in Deutschland die Frage nach einer möglichst sicheren Verwahrung der hochradioaktiven AKW-Abfälle in einem geologischen Tiefenlager. Die Standortsuche ist aber nicht die einzige offene Frage rund um die deutsche Atomindustrie. Von besonderem Interesse sind etwa die Brennelement-Fertigungsanlage im niedersächsischen Lingen und die Urananreicherungsanlage Gronau in Nordrhein-Westfalen. Im April 2023 wurde bekannt, dass der russische Atomkonzern Rosatom über eine Tochterfirma möglicherweise bald damit beginnen wird, in Lingen Brennelemente für die in Osteuropa verbreiteten Reaktoren russischer Bauart herzustellen. Gleichzeitig ist bekannt, dass ein Teil des in Lingen verarbeiteten Urans aus Russland stammt.
4. Situation in der Schweiz
Atomkraft am Kipp-Punkt: Diskussionsveranstaltung
Am 24.6.2022 hat TRAS im Anschluss an seine Jahresversammlung gemeinsam mit der Schweizerischen Energie-Stiftung SES eine Diskussionsveranstaltung zum Thema «Atomkraft am Kipp-Punkt» ausgerichtet. An der öffentlichen Veranstaltung in Basel nahmen rund 100 Personen teil. Reichhaltige Vorträge von Mario Kendziorski (DIW Berlin), Yves Marignac (NégaWatt Paris), Nikolaus Müllner (BOKU Wien) und Rudolf Rechsteiner (TRAS) ordneten die jüngsten AKW-Debatten um längere Laufzeiten oder gar neue Bauprojekte ein und bereiteten so das Feld für die anschliessende politische Podiumsdiskussion.
Moderiert von Sonja Hasler diskutierten die Schweizer Nationalratspräsidentin Irène Kälin (Grüne) und der Geschäftsleiter Schweizerischen Energie-Stiftung SES, Nils Epprecht, mit Dominique Martin vom Verband Schweizerischer Elektrizitätsunternehmen VSE und mit Vanessa Meury vom Energie Club Schweiz über die Rolle der Atomenergie in der Schweiz. Der Energie Club Schweiz sammelt derzeit Unterschriften, um das bestehenden AKW-Neubauverbot in der Schweiz aufzuheben, was zu einer entsprechend kontroversen Diskussion geführt hat.
Insgesamt war die Veranstaltung ein voller Erfolg und hat viele positive Rückmeldungen ausgelöst. Bilder der Veranstaltung sind auf den Websites von TRAS und der SES zu finden.
Gegen die Normalisierung 60-jähriger Laufzeiten
Es ist noch nicht lange her, seit der Slogan «40 Jahre sind genug» die Schweizerinnen und Schweizer daran erinnern sollte, dass ihre AKW für eine maximale Betriebszeit von 40 Jahren konstruiert wurden. Inzwischen ist Beznau-1, das älteste noch betriebene AKW der Welt, seit mehr als 52 Jahren in Betrieb – trotz massiver Sicherheitsdefizite und trotz immer wieder höchst besorgniserregender Vorkommnisse. Während die Anlage altert und immer wieder neue Altlasten zutage gefördert werden, hat sich die energiepolitische Diskussion in der Schweiz in eine ganz andere Richtung bewegt. Vor dem Hintergrund drohender Stromengpässe im Winter haben sich deutlich verlängerte Laufzeiten wie von Zauberhand normalisiert.
Heute spricht die Atombranche wie selbstverständlich von 60 Volllastjahren, die sie mit dem maroden Beznau-Reaktor erreichen möchte. Es ist klar, dass Beznau künftig als Präzedenzfall für die anderen Atomkraftwerke herangezogen werden wird. Feilschte man vor nicht allzu langer Zeit noch mit der Atomindustrie um eine eigentlich absolut angemessene Laufzeitbegrenzung von 40 Jahren, sind 60 Jahre heute plötztlich im politischen Diskurs eingemittet. Es braucht deshalb mehr denn je Druck aus der Zivilgesellschaft, um die immer weiter verlängerten Atomrisiken zu benennen und zu bekämpfen. TRAS kann und will hier eine wichtige Rolle spielen: Während im April 2023 die letzte Kilowattstunde Atomstrom in Deutschland produziert wird, laufen die veralteten Anlagen unmittelbar an der deutschen Grenze einfach weiter – selbstverständlich ohne Mitsprache der Bevölkerung und vor allem ohne dem heutigen Stand von Wissenschaft und Technik gerecht werden zu müssen. Dagegen braucht es Widerstand, je internationaler, desto besser.
Für das Engagement gegen die ungebremste Atomenergienutzung in der Schweiz ist die Kooperation von TRAS mit der Schweizerischen Energie-Stiftung zentral. So konnte im Berichtsjahr insbesondere eine ausführliche Stellungnahme zur Neuauflage einer Aufsichtsrichtlinie erstellt werden. Obwohl es sich bei der Richtlinie um einen wichtigen Baustein im Schweizer Atomenergie-Regelwerk handelt, hat es die Aufsichtsbehörde versäumt, dringend nötige Anpassungen an diesem Dokument vorzunehmen. Die SES hat – ermöglicht mit Hilfe von TRAS – eine externe Expertise zu dieser Richtlinie eingeholt und darauf aufbauend eine kritische Stellungnahme zu dieser missglückten Richtlinien-Revision verfasst, eingereicht und über eine grosse Schweizer Tageszeitung an die Öffentlichkeit gebracht.
Es ist absehbar, dass weitere Richtlinien revidiert werden. Das bedeutet einerseits, dass theoretisch die Chance besteht, bisherige Versäumnisse nachzuholen, andererseits aber auch, dass das Regelwerk weiter ausgehöhlt und abgeschwächt werden kann. Dank des von TRAS mitfinanzierten atompolitischen Fachbereichs bei der SES ist sichergestellt, dass auch die kommenden Änderungen am Regelwerk kritisch begleitet und – wenn nötig – einer öffentlichen Diskussion unterzogen werden.
Das Tiefenlager kommt in den Grenzraum
Im September 2022 wurde der seit langem angekündigte Standortentscheid für das Schweizer Atommülllager bekannt gegeben. Ausgewählt wurde die Region Nördlich Lägern im Kanton Zürich – in direkter Nähe zur deutschen Landesgrenze. Sowohl in der Schweiz als auch in Deutschland wurde der Entscheid mit gemischten Gefühlen zur Kenntnis genommen. Insbesondere ist der Zeitpunkt für die über viele tausend Generationen wirkende Entscheidung nicht nachvollziehbar. Es ist klar, dass die Standortauswahl für ein Tiefenlager von unzähligen Faktoren abhängt – auch gesellschaftlichen und politischen. Hier ist bemerkenswert, dass in der Schweiz eine Entscheidung über das Tiefenlager gefällt wurde, bevor der Ausstieg aus der AKW-Nutzung terminiert und geplant ist. Damit stellen sich nicht nur Fragen zum Zeitplan der Abfalllagerung, sondern auch zu den letztlich zu lagernden Volumina, der darin enthaltenen Radiotoxizität und sämtlichen damit verbundenen Prozessen – von der Verpackung über den Transport bis zur Einlagerung und Überwachung.
Unter anderem konnte sich TRAS-Vorstand Axel Mayer in einem Schweizer Privatradio zur politischen Dimension dieses Entscheids aus Perspektive einer Grenzregion äussern. TRAS beobachtet die weitere Entwicklung des Tiefenlagerprojekts aufmerksam.
Widerstand gegen die Atom-Initiative
Im August 2022 hat ein kleiner aber finanzkräftiger Atom-Lobby-Verein mit der Unterschriftensammlung für eine Volksinitiative begonnen. Ziel der Übung ist es, das bestehende AKW-Neubauverbot aus dem Schweizer Kernenergiegesetz zu streichen. Bei diesem Unterfangen handelt es ich um ein abermaliges Aufbäumen einer kleinen Gruppe von Energiewende-Gegnern. Zwar haben sich in der Schweiz die grossen Energieversorgungsunternehmen allesamt längst von der Idee, neue AKW zu bauen, distanziert. Die Volksinitiative ist dennoch eine ernst zu nehmende Bedrohung für die eigentlich klar deklarierte Absicht der Schweiz, zeitnah aus der Atomenergie auszusteigen. Obwohl es heute wenig wahrscheinlich scheint, dass eine Gesetzesänderung tatsächlich zu einem AKW-Neubau führen würde, gilt es, entsprechenden Absichten mit aller Vehemenz entgegenzutreten.
TRAS hat sich diesbezüglich in der grössten Schweizer Pendlerzeitung klar positioniert und öffentlich klar gemacht, dass jeder Versuch, den Atomausstiegsentscheid der Schweizer Bevölkerung rückgängig zu machen, energisch bekämpft wird. Es geht letztlich darum, die Atomschutzinteressen der Menschen in der Schweiz und im angrenzenden Ausland ernst zu nehmen und zu wahren, während gleichzeitig um jeden Preis verhindert werden soll, dass der Energiewende dringend benötigte Ressourcen zugunsten opaker Atomfantasien entzogen werden.
Am Freitag den 30. Juni 2023 findet die diesjährige Mitgliederversammlung in der „Halle 7“ im Gundeldingerfeld in Basel (Dornacherstrasse 192, Basel) statt. [Lageplan]
13:00 Uhr Statutarischer Teil 13:45 Uhr Pause 14:00 Uhr Öffentlicher Teil 1: „Misère Nucléaire. Wenn AKW ungeplant ausfallen“
15:00 Uhr Pause
15:30 Uhr Öffentlicher Teil 2: „Atomausstieg und Deutschland und energiepolitische Perspektiven“
16:30 Uhr Apéro